RW 39 Ausarbeitung
Briefwechsel zur Ausarbeitung über die Kulturfrage im RW39
Briefwechsel der stellvertretenden RW-Leiterin Monika Gärtner-Engel mit den Autoren des Abschnitts zur Krise der bürgerlichen Kultur im Revolutionären Weg Nr. 39 "Die Krise der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften, der Religion und der Kultur".
Monika Gärtner-Engel, stellvertretende Leiterin der RW-Redaktion, 13.10.2022
Liebe Genossen!
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Die Hauptproblematik ist eine recht dogmatische und auch weltfremde Behandlung der Kultur, die sich von den kulturellen Bedürfnissen, Neigungen und der kulturellen Betätigung der Massen heute recht stark loslöst.
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Ergänzend und als Hilfe gebe ich euch jetzt den Abschnitt, wie er von mir angefangen wurde zu bearbeiten. Daraus werden die Kritik und die Vorstellung, wie man die Dinge behandeln müsste sicherlich deutlicher. D. h. nicht, dass das alles schon der Weisheit letzter Schluss ist!
Wichtig ist vor allem, dass ihr euch in einer gründlichen Beschäftigung und Diskussion auf die Kritik und Vorschläge zur Weiterentwicklung vereinheitlicht, mir dazu schreibt und dann an die Überarbeitung geht. (...)
In diesem Sinne herzliche Grüße und viel Spaß bei diesem wirklich sehr interessanten Abschnitt.
Monika
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verantwortliche Autoren
19.2.23
an Monika
Betrifft: Unsere Arbeit zur vorletzten und letzten Vorlage zum Abschnitt »Krise der bürgerlichen Kultur« für den RW 39 und deine Kritiken
Liebe Monika,
warum haben wir die in dem Vorspann zur Definition der Kultur von uns selbst genannten Elemente des täglichen Lebens (Ernährung, Wohnen, Kleidung und Mode, Freizeit, Tourismus, Wellness usw.) in der Ausarbeitung ignoriert? Zum einen spiegelt das bei uns eine noch nicht überwundene Tendenz der Geringschätzung dieser Fragen in der Kleinarbeit, der Jugendarbeit und der Kaderarbeit als Bestandteil der bewusstseinsbildenden Arbeit wieder. Das ist eine Trennung von Inhalt, Form und Methode. Kultur ist vor allem auch eine Methode, wie die Menschen miteinander umgehen, sie drückt aus, welche Wertschätzung der Mensch bekommt. Der Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus kommt ja gerade darin zum Ausdruck, dass bei letzterem der Mensch im Mittelpunkt steht. Dieser Widerspruch tobt ja heute in der Gesellschaft und in beidem kommt der jeweilige Kampf um die Weltanschauung zu Ausdruck. In der Realität gibt es ja nicht nur die rein proletarische und die rein bürgerliche, bzw. kleinbürgerliche Kultur. Wir hatten uns davor gedrückt, in diese reale komplizierte Widersprüchlichkeit vollständig einzudringen. Daher kam auch ein Ausweichen in kopflastige abstrakte Definitionen und lange historische Ausführungen.
Unser Fehler hat aber auch etwas – zumindest von meiner Seite - mit dem Verständnis von theoretischer Arbeit und weltanschaulichem Kampf zu tun, indem ich gemeint habe, dass man dies vor allem auf die Ebene intellektueller Auseinandersetzungen heben müsse. Richtig war die Kritik von Stefan an unserer ersten Vorlage, dass wir vor einer Polemik gegen das bürgerliche Kulturverständnis ausgewichen sind. In der Korrektur sind wir ins Gegenteil gekippt und haben willkürlich eine Reihe von bürgerlichen Definitionen abgearbeitet. Da die bürgerliche Definition sehr verwirrend ist und jede Menge Unsinn enthält, haben wir uns davon beeindrucken lassen, statt schnell auf den Kern zu kommen und diesen zu zerpflücken. So haben wir dabei sogar manche gute Ansätze aus der ersten Ausarbeitung ganz über Bord gekippt.
Das ist auch eine sektiererische Tendenz, die das reale Leben der breiten Massen nur auf die offensichtlichen politischen Positionen reduziert und die Menschen in die Schublade »fortschrittlich« oder »rückschrittlich« steckt. Deine Kritik hat uns darauf gestoßen, dass wir uns in unserer Tätigkeit bisher wenig mit dem beträchtlichen Teil der Massen beschäftigen, die sich über Wahlen und Informationen in der Tagesschau hinaus kaum bewusst politisch beschäftigen. Sie fällen politische Urteile vor allem gefühlsmäßig. Deshalb sind diese auch mit einem niedrigen proletarischen Bewusstsein anfälliger für rückschrittliche Denk- und Lebensweisen bis hin für völkische, rassistische und faschistische Demagogie. Mit solchen kulturellen Kulturangeboten wie sie bei Massenevents, wie Volksfeste, Karneval, Volksmusik, oder in vielen Fernsehserien am Nachmittag haufenweise konsumiert werden, befassen wir uns bisher in der Anleitung und Kontrolle kaum. Diese Ignoranz ist ein typisches Phänomen, wie es vor allem für intellektuelle Linke, bzw. linke Intellektuellen typisch ist, die gegenüber den breiten Massen naserümpfend überheblich auftreten.
Ich habe mich länger mit dem offensichtlichen Widerspruch beschäftigt, warum heute zugleich eine wachsende Masse sich für neue progressive Kulturformen und -inhalte öffnet und ebenso eine, vielleicht sogar noch größere Masse, auf Schlager, Volksmusik und Massenveranstaltungen mit konservativem trivialen primitiven Inhalt abfährt. Die Frage müssen wir lösen, nicht nur dass es offensichtlich so ist, sondern warum und welche Schlüsse wir für unsere Arbeit vor allem unter der Jugend daraus ziehen müssen.
Was ihre Profitmacherei angeht, können die Monopole mit beidem leben: nämlich mit Rock- und Pop-Musik, Festivals und Konzerten mit fortschrittlichem antifaschistischen, demokratischen und internationalistischen Anspruch auf der einen und Volksfesten mit Schnulzen, Herz-Schmerz-Lieder usw. Beide bedienen vor allem die Gefühle. Gefühle sind das beweglichste Element der Denkweise und zugleich als kollektive Denkweise auch sehr beharrlich und viel träger als die ökonomische und politische Umwälzungen. Das gilt auch für Brauchtum und Traditionen (Weihnachten, Karneval, Hochzeiten, Trauern usw.). Daher können bestimmte Bilder und Lieder sogar überlebte Traditionen in Verknüpfung mit besonderen Erlebnissen wieder wecken. Wenn Helene Fischer, Andrea Berg mit entsprechendem Oufit und Ambiente (Beleuchtung, toller Kameraführung usw.) »Atemlos durch die Nacht« oder »Tausendmal betrogen« usw. singen, erinnert das viele spontan an Gefühle ihrer ersten Liebe, bzw. Enttäuschung usw. Selbst manche sehr aufgeklärten und politisch progressiv eingestellten Leute können sich keine andere Hochzeit vorstellen, als mit weißem Brautkleid und -schleier, Kutschfahrt und dann doch noch in der Kirche bzw. stellvertretend an einem besonderen romantischen Ort... Das kann man nicht einfach als reaktionär abstempeln, aber damit besteht die Gefahr, dass spontan damit auch reaktionäre Gefühle nicht nur transportiert, sondern auch beflügelt werden können.
Die Tatsache liegt darin begründet, dass die bürgerliche Ideologie und ihre vermittelnden Gefühle sich noch lange – sogar bis in den Kommunismus - hartnäckig halten. Willi Dickhut schrieb: »Die Tradition der bürgerlichen Ideologie … ist so stark, daß immer wieder bürgerliche Ideen und Lebensgewohnheiten sich spontan erneuern.« (siehe Revolutionärer Weg 19, Seite 506) Gerade in Übergangssituationen bildet sich dieses Phänomen besonders heraus. Das Alte weicht nicht, indem es mechanisch wie bei einer Waage abnimmt und das Neue auf dieselbe Weise stärker wird. Es findet als ein Kampf und Einheit der Gegensätze statt, indem zeitweilig auch das Alte belebt wird und auch vordringen kann. Selbst nach der Entscheidung ist der Prozess in der Denkweise noch nicht beendet. Die Herrschaftsmethode der gesellschaftlichen kleinbürgerlichen Denkweise hat heute mit den modernen Kommunikations- und gestalterischen Mitteln noch viel mehr Möglichkeiten Zugang in die Gefühlswelt der Massen zu finden.
Andersherum gilt aber auch: Erlebnisse aus der Kindheit prägen sich daher sehr tief ein: Das erste Weihnachtsfest, Geburtstage, usw., aber auch traurige Einschnitte. Damit ist aber auch eine konkrete Weltanschauung verbunden. Deshalb ist von großer Bedeutung, wie wir kulturelle Rituale und Verarbeitungen als Lebensschule der proletarischen Denkweise organisieren bei der Rotfuchsarbeit, bei Festen, Veranstaltungen, Trauerfeiern, die alle sehr tiefgehende weltanschauliche Auseinanderzugsetzungen und Gefühle enthalten müssen und sich nicht nur auf die unmittelbar politischen Inhalte reduzieren.
Ich hatte mich zwar in meinen Analysen mit einer Reihe von kulturellen Fragen beschäftigt, wie Wohnen, Mode, Architektur und Städtebau, Umgang mit Tieren, Freizeit und Urlaub/Tourismus, Ernährung (wo gerade die Auseinandersetzung mit dem Veganismus besonders hervorsticht.) Aber ich habe diese Merkmale hauptsächlich nur als Brainstorming gesammelt, statt sie jeweils in ihre gesamtgesellschaftliche Rolle einzuordnen und sie dialektisch in ihrer inneren Widersprüchlichkeit zu qualifizieren. Wir haben versucht, in unserer Ende 2022 abgegebenen Vorlage Konsequenzen zu ziehen. Mit deiner Hilfe, mit der Methode des Revolutionären Weg Nr. 38 und dem Vorwortentwurf für den Revolutionären Weg 39 als Anleitung habe ich die Zuversicht, dass wir nun einen guten brauchbaren Abschnitt erarbeiten können und müssen.
Herzliche Grüße
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Monika Gärtner-Engel, stellvertretende Leiterin der RW-Redaktion,
23. Februar 2023
An die verantwortlichen Autoren des Abschnitts zur Kultur
Liebe Genossen,
danke für euren Brief vom 19.2.2023. Das ist wirklich eine interessante Aufarbeitung, die sicherlich weiterhelfen wird. Allerdings gibt es immer noch Reste einer langen Gegenüberstellung von »fortschrittlicher Musik« der »trivialen Massenkultur«, die ihr von vorneherein eher als rückschrittlich charakterisiert. Ihre Themen sind aber oft alltägliche Lebensweisheiten und Wünsche, wie Zusammenhalt und Freundschaft, Familiensinn, Naturverbundenheit usw., die tatsächliche Massenbedürfnisse zum Ausdruck bringen. Darüber sollte man sich nicht so einfach erheben! Ich erinnere mich noch, wie wir beim Revolutionären Weg Nr. 27/28 (...) überwinden mussten, wie den Familienzusammenhalt in der Kleinfamilie einseitig abzuqualifizieren. Wir haben damals herausgearbeitet, dass im Kapitalismus die Familie eine elementare Solidargemeinschaft ist, ohne die Arbeiter nur sehr schwer ihr Leben hinkriegen können.
(...)
Herzliche Grüße
Monika