RW 39
Nationalsprache oder Klassensprache? Nur mit der Dialektik kommt man dem Problem auf die Spur
Briefwechsel der Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG mit einem Kollegen und Mitarbeiter zur Auseinandersetzung um Stalins Fragen der Sprachwissenschaft und die Bedeutung des weltanschaulichen Kampfes dabei.
Dieter
Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG, 28.08.25
Lieber Kollege,
deinen Brief vom 2.8. habe ich kurz vor meinem Urlaub erhalten. (...). Im Buch »Die Krise der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften, der Religion und der Kultur« (RW 39) heißt es zur allgemeinen Bedeutung der Sprache:
»Seit der Herausbildung der Klassengesellschaften ist Sprache auch Schauplatz des weltanschaulichen Kampfes...Dieselben Begriffe können unterschiedliche Bedeutung haben oder verschieden verwendet werden...Sprache wiederum widerspiegelt und schafft Bewusstsein.« (S.124/125)
Stalin erkannte an, dass die jeweiligen Klassen die Sprache auch in ihrem Klasseninteresse nutzen und kritisierte zurecht die vulgärmaterialistische Interpretation der Entstehung der Sprache als unmittelbarer Reflex des Überbaus auf die Basis.
»Ebenso berechtigt war die Kritik an der Verabsolutierung als Klassensprache, während die gemeinsame, klassenübergreifende Sprache als vereinheitlichendes Moment der Bildung einer Nation von Marr wohl gering geschätzt wurde.« (S.128)
Undialektisch war jedoch seine Auffassung, dass »die Sprache weder zur Kategorie der Basen noch zur Kategorie der Überbauten rechnen.« Er vertrat damit einen anderen Standpunkt als du in deinem Brief, wo du meinst, dass die Sprache »natürlich bei Stalin zur Basis gehört.« Unter Basis versteht der Marxismus die ökonomische Basis einer Gesellschaft. Zwischen den in den verschiedenen Gesellschaften herrschenden Ideen und der Sprache besteht zweifellos eine dialektische Einheit und Wechselwirkung von Inhalt und Form. Deshalb charakterisierte Karl Marx und Friedrich Engels Sprache als die »unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens«. (Marx/Engels, Werke Bd. 3, S. 432)
Im Kapitalismus/Imperialismus wird die Sprache von der bürgerlichen Ideologie mitgeprägt.
Deshalb heißt es im RW 39:
»Gerade die heutige hauptsächliche Herrschaftsmethode des Systems der kleinbürgerlichen Denkweise arbeitet mit einem regelrechten Wörterbuch von Begriffen, die die Wirklichkeit verzerren, die öffentliche Meinung manipulieren und das Klassenbewusstsein zersetzen sollen...Umgekehrt bekämpfen die Herrschenden die vom Klassenstandpunkt der Arbeiter geprägte Sprache des wissenschaftlichen Sozialismus und belegen Sie mit einem antikommunistischen Bannstrahl.« (S.130)
Dies zu verkennen hat in der Praxis eine Geringschätzung des weltanschaulichen Kampfes zur Konsequenz. Du wiederholst unkritisch Stalins Fehler einer Gegenüberstellung von einheitlicher Nationalsprache und Klassensprache, was gegen das dialektische Gesetz von Einheit und Kampf der Gegensätze verstößt. Die Qualität der jeweiligen Herrschaftssprache ergibt sich nicht einfach aus dem Grundwortschatz und dem grammatikalischen System, wie du meinst. Es ist eine grobe Vereinfachung, wenn du die Entwicklung einer neuen Qualität der Sprache damit beantwortest, dass du feststellst: »Aber es wird keine neue Sprache entstehen.« Qualitative Sprünge in der Entwicklung der Sprache erfordern doch nicht, dass »eine alte Sprache zerstört« wird, wie du meinst. Das ist doch eine ziemlich metaphysische Vorstellung.
Der RW behauptet auch nicht, dass Stalin den ideologischen Kampf leugnete oder der Meinung war, dass »kein weltanschaulicher Kampf notwendig« sei, wie du unterstellst, sondern dass er den ideologischen Kampf, die weltanschauliche Auseinandersetzung und den Kampf um die Denkweise unterschätzte bzw. geringschätzte. Es ist notwendig, dies differenziert zu betrachten und zu qualifizieren. Dabei drang diese Tendenz bei Stalin in den 1930er Jahren vor, was eine materielle Grundlage hatte in den gesellschaftlichen Veränderungen durch die erfolgreiche Kollektivierung der Landwirtschaft, die Aufhebung des Parteimaximums, die Veränderung zu einer kleinbürgerlichen Lebensweise bei einem Teil der Funktionäre im Partei-, Staats- und Wirtschaftsapparat und durch die Veränderung der außenpolitischen Situation mit dem Machtantritt des Hitler-Faschismus und die wachsende Kriegsgefahr. Die Gefahr einer Restauration des Kapitalismus sah er nach der Kollektivierung der Landwirtschaft nur in Verbindung mit einer imperialistischen Aggression.
Es geht bei der Auseinandersetzung um die Rolle der Sprache im Kern nicht nur um unterschiedliche Sprachtheorien, sondern um die Frage, welche Rolle die Denkweise und der weltanschauliche Kampf für die Entwicklungsrichtung des Sozialismus hat.
Herzliche Grüße
Dieter